Alleinerziehende weiter unter Druck

Nach wie vor sind Alleinerziehende vier- bis fünfmal häufiger von Armut betroffen als Paarfamilien. Das zeigt eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung.

Antje Funcke (Senior Expert) und Sarah Menne (Senior Project Manager) verantworten gemeinsam die Studie „Alleinerziehende weiter unter Druck“, die im Rahmen ihres Projektes „Familie und Bildung: Politik vom Kind aus denken“ entstanden ist.

Wir haben mit den beiden gesprochen:

Gerade ist ja die neue Studie: „Alleinerziehende weiter unter Druck“ veröffentlicht worden. Könnt ihr zu den Hintergründen etwas erzählen? Was ist die Aufgabe der Stiftung und in welchem Rahmen ist diese Studie in eurem Hause erstellt worden?

Sarah: Im Mittelpunkt der Arbeit der Bertelsmann Stiftung stehen immer der Mensch und seine Teilhabe an der Gesellschaft. Ziel unseres Projektes ist es, Kindern und Jugendlichen umfassende Chancen auf gutes Aufwachsen, Bildung und Teilhabe zu eröffnen – und zwar unabhängig von der Familienform, in der sie aufwachsen. Jede fünfte Familie in Deutschland ist heute alleinerziehend – in absoluten Zahlen sind das 1,52 Millionen Familien.

Antje: Leider sind 43 Prozent dieser Familien von Einkommensarmut betroffen. Für die Kinder bedeutet dies oftmals, Verzicht, Ausgrenzung, Beschämung und schlechtere Chancen. Das Ziel der Studie ist es, auf dieses Problem hinzuweisen, es zu untersuchen und Vorschläge zu entwickeln, wie Armut vermieden und Alleinerziehende besser unterstützt werden können.

Wer erhebt die Daten und wie wird eine solche Studie letztlich finalisiert?

Antje: Die Studie „Alleinerziehende weiter unter Druck“ hat Professorin Anne Lenze von der Hochschule Darmstadt für uns verfasst. In der Studie wie auch in unserem „Factsheet Alleinerziehende in Deutschland“ tragen wir aktuelle Daten des Statistischen Bundesamts, der Bundesagentur für Arbeit sowie weitere wissenschaftliche Befunde zusammen, um einen umfassenden Einblick in das Leben von Alleinerziehenden zu geben. Bevor wir die Studie finalisiert haben, sind wir in den Austausch mit Alleinerziehenden-Verbänden gegangen und haben auch deren Anregungen mit einfließen lassen. Zudem haben wir die Studie mit dem wissenschaftlichen Expert:innenbeirat unseres Projektes diskutiert.

Was ist das Ziel dieser Studie und wen möchtet ihr damit ansprechen und/oder aktivieren?

Sarah: Mit der Studie möchten wir auf die Lebenssituation von alleinerziehenden Familien aufmerksam machen. Natürlich sind sie keine heterogene Gruppe. Aber insgesamt stehen sie besonders unter Druck, da die allermeisten von ihnen Erwerbstätigkeit, Kinder und Haushalt vorwiegend allein bewältigen müssen. Das führt auch zu einem höheren Armutsrisiko für die Alleinerziehenden und ihre Kinder. Bislang hat es die Politik nicht geschafft, dieses Risiko nachhaltig und deutlich zu reduzieren. Wir wollen dazu beitragen, dass sich das ändert und schlagen daher auch Reformen für alleinerziehende Familien vor.

2014 gab es ja die Vorgängerstudie „Alleinerziehende unter Druck“. Konntet ihr damit etwas erreichen?

Antje: Ja, mit den Studie 2014 und auch 2016 konnten wir bereits etwas bewegen. Wichtige Forderungen von damals, wie etwa die Ausweitung des Unterhaltsvorschusses, die Erhöhung des Entlastungsbetrags und der einfachere Bezug des Kinderzuschlags für Alleinerziehende sind inzwischen umgesetzt worden. Dazu haben wir ein wenig beigetragen. Die Maßnahmen haben dazu geführt, dass Alleinerziehende heute etwas seltener von Hartz IV-Leistungen leben als noch vor fünf Jahren. Nach wie vor leben aber zu viele alleinerziehende Familien in Armut. Ein wirklicher Systemwechsel hin zu einer Politik, die Kinder und Jugendliche ins Zentrum stellt und sie unabhängig von ihren Eltern finanziell absichert, ist noch nicht erreicht. Der wäre in unseren Augen mit dem Teilhabegeld nötig.

Wie hat sich die Situation für Alleinerziehende in den letzten fünf Jahren verändert bzw. hat sie sich überhaupt verändert?

Antje: Durch die Reform des Unterhaltsvorschusses kann diese Leistung nun länger und dauerhaft bezogen werden, wenn Unterhaltszahlungen ausbleiben. Denn die vorherige doppelte Begrenzung (nur sechs Jahre lang, nur bis zum Alter von zwölf Jahren) ist weggefallen. Auch der Zugang zum Kinderzuschlag wurde für Alleinerziehende vereinfacht. Und der in der Corona-Pandemie nun dauerhaft erhöhte steuerliche Entlastungsbetrag belässt den Alleinerziehenden etwas mehr von ihrem Einkommen. Allerdings kam es bei der Einführung dieser Maßnahmen häufig erst einmal zu Schnittstellenproblemen, weil Leistungen aufeinander angerechnet wurden und dadurch andere, wie etwa das Wohngeld, wegfallen.

Sarah: Die Reformen haben dazu beigetragen, dass heute weniger Alleinerziehende von SGB II-Leistungen abhängig sind als noch vor fünf Jahren (34 Prozent in 2020 im Vergleich zu 38 Prozent in 2015). Die Armutsgefährdungsquote hat sich in diesem Zeitraum jedoch nicht verringert – noch immer gelten 43 Prozent als einkommensarm. Hinzu kommt: Die Alleinerziehenden und ihre Kinder, die von Hartz IV-Leistungen abhängig sind, sind von den bisherigen Maßnahmen nicht erreicht worden. Daher brauchen wir dringend weitere Reformen.

Gibt es überraschende Erkenntnisse in der neuen Studie?

Sarah: Fast die Hälfte aller alleinerziehenden Mütter, und somit deutlich mehr als Mütter in Paarfamilien, arbeiten in Vollzeit oder vollzeitnah (46 im Vergleich zu 31 Prozent). 71 Prozent von ihnen sind insgesamt erwerbstätig. Aber trotz Erwerbstätigkeit sind viele einkommensarm oder müssen SGB II-Leistungen beziehen: 40 Prozent der Alleinerziehenden, die SGB II-Leistungen empfangen, sind Aufstocker:innen.

Antje: Anne Lenze arbeitet zudem sehr gut heraus, dass vor allem die Bedarfe für die soziokulturelle Teilhabe der Kinder im Mindestunterhalt und in sonstigen Leistungen für Alleinerziehende nicht ausreichend berücksichtigt und abgesichert werden. Es ist überraschend, dass dieses Problem nicht gesehen und behoben wird.

Was sind die wichtigsten Erkenntnisse in Kürze?

Antje: Erschreckend ist das nach wie vor sehr hohe Armutsrisiko von Alleinerziehenden. Sie sind, je nach Definition, vier- bis fünfmal häufiger von Armut betroffen als Paarfamilien. Das liegt daran, dass Alleinerziehende Erwerbstätigkeit, die oft alleinige Verantwortung für Kinder und den Haushalt unter einen Hut bringen müssen – und das geht nicht mit jedem Job. Zudem ist es so, dass nach der Geburt eines Kindes immer noch in der Regel die Mutter ihre Erwerbstätigkeit unterbricht oder reduziert. Im Falle einer Trennung trägt die Alleinerziehende die Folgen dieser gemeinsam in der Familie getroffenen Entscheidung allein, so sieht es das Unterhaltsrecht vor. Und: Die Hälfte aller Kinder in alleinerziehenden Familien erhalten gar keine Unterhaltszahlungen vom getrennt lebenden Elternteil und ein Viertel bekommt weniger als den Mindestunterhalt.

Gibt es Besonderheiten in Bezug auf Corona?

Sarah: Die Corona-Pandemie war sicher für alle Familien eine immense Belastung – für Alleinerziehende aber nochmal deutlich härter. Geschlossene Kitas und Schulen sowie Kontaktbeschränkungen trafen sie sehr hart. Denn sie sind im Alltag auf ein gutes Netzwerk und ausreichende, qualitativ hochwertige Betreuungsplätze angewiesen. Viele Alleinerziehende haben zudem Einzelkinder, die die Freundinnen und Freunde besonders vermisst haben. Aufgrund der hohen Armutsbetroffenheit leben alleinerziehende Familien oft in beengten Wohnverhältnissen. Ihren Kindern fehlte häufiger eine angemessene digitale Ausstattung, was zu zusätzlichen Problemen beim Distanzunterricht führte. Auch das kostenfreie Mittagessen und der kostengünstige Einkauf bei den Tafeln fielen weg.

Antje: Da Alleinerziehende oft im Niedriglohnbereich arbeiten, waren bei ihnen die finanziellen Einbußen besonders groß, wie Studien zeigen. Minijobs fielen oftmals direkt weg, auch gab es hier kein Kurzarbeitergeld. Und schließlich arbeiten viele Alleinerziehende in systemrelevanten Berufen wie dem Einzelhandel und der Pflege, hatten somit ein höheres Infektionsrisiko und gleichzeitig Angst, wer für die Kinder da ist, wenn sie sich anstecken sollten.

In der Studie wird auch über die Digitalisierung der Antragssysteme gesprochen. Könnt ihr einmal erläutern, was hier geplant ist?

Sarah: Der Aufwand, um verschiedene Leistungen bei unterschiedlichen Ämtern zu beantragen und zu verschiedenen Fristen immer wieder Belege einzureichen, ist gerade für Alleinerziehende groß. Durch die Digitalisierung von Angeboten und einen Datenabgleich zwischen unterschiedlichen Behörden könnte hier Abhilfe geschaffen werden. Das zum 1. Januar 2021 in Kraft getretene Gesetz zur Digitalisierung von Verwaltungsverfahren bringt den Alleinerziehenden allerdings zunächst noch keine große Erleichterung, da es vor allem auf den Zeitraum um die Geburt eines Kindes herum abzielt. Der Übergang zum Alleinerziehenden findet in den meisten Familien aber später statt, meist verursacht durch eine Trennung oder Scheidung.

Antje: In den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Bremen wird aktuell aber z. B. auch an einem digitalen Antragsverfahren für den Unterhaltsvorschuss gearbeitet. Das wäre eine Erleichterung für Alleinerziehende. Sicher ist es zu begrüßen, wenn die Digitalisierung zu einfacheren und transparenteren Antragsmöglichkeiten führt. Noch besser wäre es aber, wenn es weniger und besser abgestimmte Leistungen gibt, wie z. B. unser Teilhabegeld, das zahlreiche Leitungen bündeln und ersetzen soll.

Ihr habt ja auch einige sehr gute und fundierte Vorschläge zur Verbesserung der Situation gemacht. Könnt ihr uns diese erläutern? Was sind eure konkreten Forderungen?

Antje: Wir schlagen das Teilhabegeld als neue Leistung für eine Grundsicherung von Kindern vor. Es löst Kinder aus dem SGB II-System heraus, bündelt bestehende Leistungen (SGB II-Regelbedarfe für Kinder, Kindergeld, Kinderzuschlag, BuT-Leistungen) und ist einfach zu beantragen. Das Teilhabegeld wird mit steigendem Einkommen der Eltern abgeschmolzen. So reduziert es gezielt Kinder- und Jugendarmut. In der Studie machen wir Vorschläge, wie das Teilhabegeld ausgestaltet sein muss, damit es insbesondere Alleinerziehende und ihre Kinder erreicht. Dabei achten wir auch auf verschiedene Lebenskonstellationen – z. B. was passiert, wenn die Eltern sich die Sorge für das Kind nach der Trennung im Wechsel gleichmäßig oder aber zumindest umfänglich untereinander teilen. 

Um Konflikte rund um den Unterhalt zu entschärfen und dafür Sorge zu tragen, dass zahlungsfähige Unterhaltspflichtige dieser Verpflichtung auch nachkommen, sollten die Unterhaltsansprüche auf den Staat übertragen werden können. Zudem sollte im Unterhaltsrecht der „Grundsatz familiärer Solidarität nach Trennung“ Eingang finden.

Sarah: Außerdem sollten die Mehrbedarfe von alleinerziehenden und getrennt lebenden Familien endlich empirisch erhoben und abgesichert werden. Denn alleinerziehend zu sein bzw. getrennt zu leben ist teuer, erfordert z. B. mehr Wohnraum, Kinderzimmer in zwei Wohnungen, doppelte Anschaffungen für Kinder etc. Das Betreuungsmodell, das von Familien gewählt wird, sollte aber nicht von der finanzielle Situation der Familie bestimmt werden. Vielmehr sollte das Wohl der Kinder im Mittelpunkt stehen. Und natürlich sind gerade Alleinerziehende auf flächendeckend gute ganztägige Schulen und Kitas angewiesen. Des Weiteren sind mehr Anstrengungen nötig, um Alleinerziehende in Jobs zu vermitteln, die sie finanziell absichern und gleichzeitig mit ihrer alleinigen Verantwortung für die Kinder vereinbar sind.

Was passiert wenn nicht gehandelt wird?

Antje: Wenn nicht gehandelt würde, wachsen weiter viel zu viele Kinder in Armut auf. Fast die Hälfte aller Kinder, deren Familien Hartz IV-Leistungen beziehen, wachsen heute nur mit einem Elternteil auf. Diese Kinder und Jugendlichen dürfen wir nicht zurücklassen. Armut bedeutet für sie Verzicht auf vieles, was für andere Gleichaltrige ganz normal ist, wie den Geburtstag zu feiern, bei der Klassenfahrt dabei zu sein oder das gewünschte Hobby auszuüben. Es bedeutet aber auch Ausgrenzung, Scham, Belastung und weniger Chancen im Bildungssystem und in der Zukunft. Das hat für die Gesellschaft Folgen und wird langfristig hohe Folgekosten nach sich ziehen.

Sarah: Gleichzeitig ist es natürlich unerlässlich, alleinerziehenden Elternteilen mehr Chancen zu eröffnen und ihnen Wege in eine auskömmliche und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu ermöglichen, die mit der Fürsorge für die Kinder vereinbar ist. Das hilft Müttern und Vätern heute, wirkt dem Fachkräftemangel entgegen und vermeidet in Zukunft das Abrutschen in Altersarmut. Dabei kann eine gute Politik für Alleinerziehende Impulse geben, über eine gerechte Verteilung und Anerkennung von Care-Arbeit nachzudenken und neue Wege zu beschreiten. Hier ist noch viel zu tun.

Mit wem gehengeht ihr im Rahmen eurer Erkenntnisse nun ins Gespräch und welche weiteren Schritte leitet die Bertelsmann Stiftung  ein?

Sarah: Wir freuen uns erstmal, wenn die Studie auf Interesse in der Öffentlichkeit, Fachszene und Politik stößt und Menschen zum Nachdenken und Diskutieren anregt. Gerne gehen wir mit Verbänden, Parteien, Ministerien und Initiativen ins Gespräch und stellen unsere Erkenntnisse und Vorschläge zur Diskussion.

Antje: Natürlich hoffen wir, dass der dringende Reformbedarf, den wir gerade bei den Alleinerziehenden sehen, auch von der Politik erkannt wird. Darauf arbeiten wir hin.

Das hoffen wir auch! Ganz herzlichen Dank für eure ausführlichen Antworten. Wer jetzt direkt einen Blick auf die aktuellen Zahlen der Studie werfen möchte, findet diese in unserer Rubrik Zahlen & Fakten.

Zusatzinformationen

2019 lebten in Deutschland 1,52 Millionen alleinerziehende Familien mit Kindern unter 18 Jahren. Das sind 19 Prozent aller Familien. Alleinerziehende sind der amtlichen Statistik zufolge Mütter und Väter, die ohne Ehe- oder Lebenspartner:in mit minder- oder volljährigen Kindern in einem Haushalt zusammenleben. Die Zahlen zur Einkommensarmut stammen vom Statistischen Bundesamt und beziehen sich auf das Jahr 2019. Die Daten zum SGB II- Bezug aus dem Jahr 2020 sind bei der Bundesagentur für Arbeit abrufbar.

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Von Sara Buschmann